Fr. Mrz 29th, 2024

Ich bin es gewohnt, sehr weit sehen zu können. Das liegt nicht etwa daran, dass ich besonders gute Augen hätte. Im Gegenteil, ich bin hochgradig kurzsichtig und würde ohne meine Sehhilfe kaum einen scharfen Blick in den Badezimmerspiegel werfen können. Ich kann weit gucken, weil ich in Hamburg lebe. Genauer: am Stadtrand von Hamburg. Dort gibt es viel flaches Land. Flaches Land, über das ich meinen Blick schweifen lassen kann. Umso aufregender war die Vorstellung auf meinen Urlaub im Bayerischen Wald.

Ich war nicht alleine unterwegs. Mein guter Kumpel Matthias war auch mit dabei. Der kommt übrigens aus Plön in Schleswig Holstein und beklagt sich oft darüber, dass die nördliche Wettervorhersage immer in Hamburg aufhört. Als würde es die Plöner gar nicht geben. Zwei Flachländer unterwegs in den Bayerischen Wald. Und zwar auf direktem Wege auf den Kaitersberg, besser gesagt: auf den Kreuzfelsen. Wir hatten uns viel vorgenommen. Und es ging früh los. Als um fünf Uhr morgens der Wecker klingelte, nörgelte Matthias irgendwas von „Und das soll Urlaub sein?“ Aber uns war natürlich klar, dass man den Kaitersberg nur bezwingen kann, wenn man sich rechtzeitig auf den Weg macht. Wir sind ja kluge Köpfe, wir Norddeutschen.

Ungeahnte Höhen im bayerischen Wald

Bepackt mit ausreichend Proviant stapften wir also los. Als wir an der Räuber Heigl Höhle vorbeikamen, war ich geneigt, die Besteigung des Berges ausfallen zu lassen und statt dessen lieber in die dunkeln Tiefen der Höhle vorzudringen. Aber Matthias war dagegen. Er sagte, dass der Ausblick grandios sein sollte. Mich reizte das nur bedingt, denn wenn ich darüber nachdachte, dass das Gipfelkreuz sich in 999 Metern Höhe befand, war ich gar nicht mehr so scharf auf diesen tollen Ausblick. Aber ich ging mit, wollte mir auch keine Blöße geben, das ist ja ganz klar. Der Aufstieg war übrigens alles andere als angenehm. Wer es gewohnt ist, die größten Höhenmeterunterschiede auf einer Rolltreppe oder in einem Fahrstuhl hinter sich zu bringen, der muss für 1.000 Meter erst einmal den richtigen Rhythmus finden. Mir fiel das schwer. Matthias fiel es schwerer. Hätten wir noch ein drittes Nordlicht dabei gehabt, wäre es dem wahrscheinlich am schwersten gefallen.

Der alte Mann und der Berg

Matthias machte gute Miene zum bösen Spiel und sprach in einer Tour von unseren nächsten Eroberungen. Ich hörte ihn „Dreisessel Berg“ sagen, er sprach vom „Aussichtsturm Kadernberg“ und faselte über den „Aussichtsfelsen Philippsreut“. Ich aber wollte erst einmal diese Tour hinter mich bringen, und das möglichst, ohne einem Herzinfarkt zu erliegen. Meine Atmung hatte jedenfalls schon einmal gleichmäßiger geklungen, so viel ist sicher. Mit der Zeit wurde Matthias ruhiger. Er hatte offenbar auch bemerkt, dass es sinnvoller ist, sich auf die nächsten Schritte der eigenen Füße zu konzentrieren, als sich mit den Planungen der nächsten Touren jenseits menschlicher Grenzen zu befassen. Das vielleicht prägendste Erlebnis dieses Tages war ein alter Mann mit einem Stock, den wir überholten. Fasziniert von seiner Langsamkeit gingen wir an ihm vorbei, grüßten kurz und warfen uns einen wissenden Blick zu.
„Der Typ kommt nie oben an“, sagte Matthias.
„Auf keinen Fall!“, stimmte ich ein.
Es kam ein kleines bisschen anders. Wir hatten immer größere Probleme mit unserem Rhythmus und mussten ständig Pausen einlegen. Mal meckerte Matthias, mal war ich der Jammerlappen. Es muss wohl unsere sechste oder siebte Pause gewesen sein, als wir wieder dem alten Mann begegneten. Er grüßte uns so freundlich, wie wir ihn zuvor gegrüßt hatten, und ging an uns vorbei. Sein Tempo hatte sich nicht verändert. Aber er machte den Eindruck, als würde ich die nächsten 500 Jahre einfach so weitergehen können. Mein Kumpel Matthias sah mich an. Ich sah ihn an und wir kamen zu einer stillen Übereinkunft: Wir blieben still. Es gab nichts weiter zu kommentieren.

Gipfelstürmer im bayerischen Wald

Etwa eine Stunde, bevor wir den Gipfel erreichen sollten, kam uns der alte Mann erneut entgegen. Er befand sich bereits wieder auf dem Abstieg. Wir grüßten einander freundlich und ließen es damit auf sich beruhen. All unsere Mühen wurden belohnt, als wir den Gipfel des Kreuzfelsens erreichten. Keuchend und erschöpft standen wir am Gipfelkreuz und spürten, wie sich die Atmung langsam normalisierte. Die Ausblick war unglaublich. Wir sahen Berge, wir sahen Täler, wir sahen grüne Wiesen und einen Himmel, der niemals zuvor blauer und schöner gewesen war. Fast eine Stunde waren wir dort oben und konnten unser Glück kaum fassen. Auf dem Abstieg waren wir schweigsam. Jeder von uns ließ die Bilder vom Gipfel auf sich wirken und hing seinen Gedanken nach. Als wir aber im Auto saßen und auf dem Weg zurück in unsere Unterkunft waren, begannen die ersten Planungen für die nächste Tour. Wir hatten uns wieder viel vorgenommen. In erster Linie aber wollten wir am richtigen Rhythmus für unser Tempo arbeiten. Der Bayerische Wald jedenfalls hatte uns in seinen Bann gezogen, daran gibt es nichts zu rütteln.

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